Auch in der Katechese vom 25. Juni 1980 denkt Johannes Paul II. über die Begierde nach (publiziert in L’Osservatore Romano 80/27). Die Begierde verzerre den „bräutlichen Sinn des Leibes“. Der Papst erinnert daran, dass die Ursache für die Scham nicht im „körperlichen Geschlecht“, also im Leib, zu suchen sei, sondern auf Wandlungen zurückgehe, die der menschliche Geist erfahren habe.
Der Geist wisse um die Unersättlichkeit der Begierde bezüglich der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau. Die Scham schütze den Menschen vor der Begierde: „Man kann sogar sagen, durch die Scham bleiben der Mann und die Frau gleichsam im Stand der anfänglichen Unschuld. Denn sie machen sich ständig den bräutlichen Sinn des Leibes bewusst und möchten ihn sozusagen vor der Begierde schützen, so wie sie versuchen, den Wert der Gemeinschaft, das heißt der Verbundenheit ihrer Personen in der ‚Einheit des Leibes‘, aufrechtzuerhalten.“
In Gen 2,24 werde „diskret“, aber eindeutig von der „echten Verbindung von Personen“ gesprochen, die dazu führe, dass sie „ein Fleisch werden“. Die Begierde kann aber sozusagen eine eigene Dynamik, ein Eigenleben finden: „Die fleischliche Begierde lenkt dieses Verlangen jedoch auf die leibliche Befriedigung, oft auf Kosten einer echten und vollen Gemeinschaft der Personen.“
Spiegelungen hiervon sehen wir auch in einer sexualisierten Gesellschaft, in der Triebbefriedigung und Lustgewinn als bereits in sich wertvoll und wichtig gelten, während die eheliche Gemeinschaft, die natürlich die Sexualität integriert, über weitaus mehr Dimensionen verfügt als nur die körperlichen Akte der Geschlechterliebe.
Johannes Paul II. spricht das Machtmotiv des Mannes an: „In der Folge zeigt sich die Erfahrung dieser Beherrschung unmittelbar als das unersättliche Verlangen nach einer Verbindung anderer Art. Von dem Augenblick an, da der Mann über sie ‚herrscht‘, wandelt sich die aus voller geistiger Einheit der beiden sich einander schenkenden Wesen entstandene Gemeinschaft der Personen in eine gegenseitige Beziehung anderer Art: Gegenstand des Verlangens wird der Besitz des anderen. Wenn beim Mann dieser Impuls vorherrscht, können die Gefühle, welche die Frau ihm entgegenbringt, nach Gen 3,16 eine ähnliche Form annehmen, und sie tun es auch. Und manchmal kommen sie vielleicht dem ‚Verlangen‘ des Mannes zuvor, suchen es zu wecken oder zu steigern.“
Mann und Frau können sich der Begierde unterwerfen. Sie gehorchen dem Trieb. Johannes Paul II. hingegen weist auf den „Sinn des Leibes“ hin, nämlich auf das „volle Bewusstsein, Mensch zu sein“: „Wir schließen aber auch jede tatsächliche Erfahrung des Leibes in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit ein, jedenfalls die ständige Empfänglichkeit für diese Erfahrung. Der Sinn des Leibes ist nicht nur etwas Begriffliches. Darauf haben wir bei den vorangegangenen Betrachtungen schon ausführlich hingewiesen. Der Sinn des Leibes bestimmt zugleich das Verhalten: er ist die Weise, wie man den Leib erfährt. Er ist das Maß, das der innere Mensch, also das ‚Herz‘, auf das sich Christus in der Bergpredigt bezieht, auf den menschlichen Leib in seiner Männlichkeit und Weiblichkeit (also in seiner Geschlechtlichkeit) anwendet.“
Der „rein objektive Sinn von Leib und Geschlecht“ reicht über die „Geschichtlichkeit des Menschen“ hinaus. Erwogen werden müsse „das Maß, das der geschichtliche Mensch mit seinem ‚Herzen‘ auf den eigenen Körper und seine Geschlechtlichkeit anwendet. Dieses Maß ist nicht nur etwas Begriffliches: es bestimmt das Verhalten und entscheidet grundsätzlich über die Art und Weise, den Körper zu erfahren“: „Wenn in der persönlichen Erfahrung der Menschen (was sich aus dem biblischen Text folgern läßt) jene anfängliche Form verwirrt und verzerrt wurde – wie wir anhand der Untersuchung der Scham zu zeigen versuchten –, musste auch der bräutliche Sinn des Leibes, der im Zustand der anfänglichen Unschuld das Maß für die Herzen beider, des Mannes und der Frau, bildete, verzerrt werden. Wenn es uns gelingt herauszuarbeiten, worin diese Verzerrung besteht, gewinnen wir zugleich eine Antwort auf unsere Fragen, worin die Begehrlichkeit des Fleisches besteht und was ihre theologische und zugleich anthropologische Besonderheit ausmacht.“ Diese theologisch-anthropologische Besonderheit soll weiterhin näher betrachtet werden.
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.