Die Bekenntnisformel von Nizäa ist für Thomas Marschler, den Lehrstuhlinhaber für Dogmatik an der Universität Augsburg, „eines der wichtigsten Dokumente christlicher Theologie überhaupt“. Der Grund dafür sei die „Bejahung eines dem Vater wesensgleichen, von Ewigkeit her aus ihm hervorgehenden Sohnes“. Das betonte der Theologe bei der diesjährigen Internationalen Theologischen Sommerakademie in Aigen (Österreich), die bis Mittwoch stattfindet.
In diesem Jahr liegt das Konzil von Nizäa 1.700 Jahre zurück. Beim Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 – dem zweiten ökumenischen Konzil der Kirchengeschichte – sei das Ergebnis des ersten Konzils von Nizäa bestätigt und erweitert worden. Jahrzehntelange theologische Kämpfe hätten damit ein Ende gefunden. „Nizäa galt als erster Schritt in einer Christologie der Konzilien“, so der Augsburger Dogmatiker. Die Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts waren nach Thomas von Aquin ein „dauerhafter Sieg über alle wichtigen Häresien“, fuhr er fort.
„Die Christologie der mittelalterlichen Scholastiker verstand sich als systematische Entfaltung und Vertiefung des altkirchlichen Erbes“, sagte der Referent in Aigen. Die altkirchlichen Orthodoxie- und Häresiemaßstäbe seien bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zunächst nicht angetastet worden, als die durch Martin Luther eingeleitete Reformation Europa erfasste. „Obwohl Luther die unfehlbare Autorität kirchlicher Synoden generell in Frage stellte, ließen er und die übrigen wichtigen Führer der reformatorischen Bewegung die fundamentalen altkirchlichen Bekenntnisse unberührt.“ Luther habe sogar eine zunehmend positive Haltung zum nicht-biblischen Schlüsselbegriff der „Wesensgleichheit“ entwickelt.
Mit dem Beginn der Aufklärung ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fand anti-nizänisches Denken aber erstmals Eingang in breitere Kreise der protestantischen Universitätstheologie: „Damals trat zu den vorhandenen Argumenten gegen die wahre Gottessohnschaft Christi der neue Komplex historischer Quellenkritik. Bestritten wurde nun die geschichtliche Zuverlässigkeit vieler biblischer Texte.“ Gegenbewegungen wie der Pietismus konnten das nicht verhindern.
Die katholische Theologie sei zunächst wenig betroffen gewesen. Aber nach dem Verfall der älteren Scholastik hinterließen Rationalismus und Aufklärung auch in der katholischen Systematik ihre Spuren, so der Augsburger Theologe. „Die Trinitätslehre verkümmerte spürbar.“
Die Neuscholastik wirkte dem entgegen: „Erst in der Modernismuskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde erkennbar, dass auch der Katholizismus von diesen Fragen nicht unberührt bleiben konnte.“ In der nur wenig später erschienenen Enzyklika „Pascendi“ von Papst Pius X. sei die Spannung „zwischen dem geschichtlichen Christus und dem Christus des Glaubens“ aufgegriffen worden. Seitdem sei diese auch in der katholischen Theologie nicht mehr von der Tagesordnung verschwunden.
Theologen wie Edward Schillebeeckx und Hans Küng hätten eine tiefgreifende Revision der dogmatischen Christologie gefordert und dogmatische Vorgaben zur Diskussion gestellt, die bislang als unverhandelbar gegolten hätten. Auch der Küng-Schüler Karl-Josef Kuschel habe die These vertreten, dass die Präexistenz Jesu im Neuen Testament keine zentrale Funktion besitze und für heutige Christen nicht mehr Teil des Glaubens sein müsse. Die Debatten der letzten Jahrzehnte hätten tiefe Spuren hinterlassen, berichtete Marschler. Ein Blick in neuere Lehrbücher lasse erkennen, wie schwer sich mittlerweile auch katholische Autoren mit Themen wie „Wesensgleichheit“ und „Präexistenz“ täten.
Zu den Einwänden gehöre die These, dass die Art und Weise, wie Nizäa und die nachfolgenden Konzilien über Christus reden, dem ursprünglichen Zeugnis des Neuen Testaments nicht mehr entspreche. Das eigentliche Gegenmodell aus moderner Perspektive zur nizänischen Christologie sei der Adoptianismus: Jesus Christus sei kein vom Himmel gekommener ewiger Sohn Gottes gewesen, sondern ein von Gott besonders erwählter, beauftragter und begnadeter Mensch, dessen besondere Gottesbeziehung hervorstach. „Gott“ als Träger der „göttlichen Natur“ sei er deswegen nicht.
Marschler widersprach dieser Sichtweise mit Überzeugung: „Entscheidend ist bei der Beurteilung des Symbolums von Nizäa, ob darin unter veränderten Bedingungen das Zeugnis der Schrift sachgemäß ausgelegt wird. An diesem Kriterium entscheidet sich, wie man den Text dogmatisch beurteilen wird.“
Joseph Ratzinger habe den Begriff der Wesensgleichheit nicht als Hellenisierung des Glaubens verstanden, sondern gerade das unvergleichlich Neue und Andere festgehalten: „Das göttliche Eine konnte von nun an nur noch zugleich mit der Realität der Beziehung gedacht werden – für griechisches Denken etwas Unerhörtes.“ Nizäa habe die griechischen Philosophen überwunden: „So wird der Blick frei für den echt christlichen Monotheismus als Synthese von Einheit und Unterschiedenheit in Gott.“
Das Symbolum von 325 bilde zwar bis heute ein ökumenisch verbindendes Fundament fast aller christlichen Konfessionen. „Aber die Selbstverständlichkeit, mit der die Theologie bis zur Mitte des zweiten christlichen Jahrtausends die Definition von Nizäa als Grundlage des dogmatischen Nachdenkens über Christus akzeptiert hatte, ist in der Neuzeit zerbrochen“, stellte Marschler fest.
Obwohl die Selbstverständlichkeit verloren ging, habe das Symbolum von Nizäa der modernen Kritik bis heute standgehalten, betonte er dennoch. „Das Grundanliegen, mit dem seine Verfasser vor 1700 Jahren dem Arianismus entgegengetreten sind, ist identisch mit der christlichen Urüberzeugung schlechthin: dass in Jesus von Nazareth wirklich Gott selbst zur Welt gekommen ist und nicht nur ein geschöpflicher Sachwalter Gottes. Es ist die Gewissheit, dass uns nur ein Erlöser vergöttlichen kann, der selbst göttlich ist. Nizäa hat erkannt: Was Christus für uns getan hat, wurzelt darin, wer er ist und immer schon war.“
Der Augsburger Dogmatiker fügte eine einleuchtende Begründung hinzu: „Wenn Gott sich uns im Menschen Jesus von Nazareth selbst zeigt und mitteilt, dann muss Jesus eine göttliche Person sein und folglich eine göttliche Natur haben. Denn sonst würde es sich nicht um Selbstoffenbarung Gottes handeln.“
Wäre Jesus ein Prophet wie andere vor ihm, wäre er prinzipiell überbietbar und ersetzbar. Anders sehe es aus, wenn die Beziehung, die Jesus den Menschen enthüllt habe und an der er sie einlade teilzuhaben, die Beziehung zwischen Vater und Sohn im Heiligen Geist, eine innere Bestimmung Gottes selbst sei. „Dann begegnen wir in den menschlichen Taten Jesu wirklich dem Handeln Gottes und in seinen menschlichen Worten dem göttlichen Wort. Dann wird jeder Mensch, der in eine lebendige Gemeinschaft mit Jesus tritt, aufgenommen in die Gemeinschaft mit Gott, der selbst als Einheit in Beziehungen existiert.“
