Der Luzerner Judaist und Jesuit Christian Rutishauser hat vor problematischen Aspekten mit Blick auf die am 7. September geplante Heiligsprechung von Carlo Acutis durch Papst Leo XIV. gewarnt. In einem Beitrag für das Portal „feinschwarz“ beschrieb Rutishauser die von Acutis online gesammelten 136 eucharistischen Wunder als „historisch gesehen oft Teil des christlichen Antijudaismus“.
Ein eucharistisches Wunder ist ein außergewöhnliches Ereignis, das mit der heiligen Eucharistie verbunden ist, und das die Wesensgegenwart Christi in den Gestalten Hostie und Wein auf sinnlich wahrnehmbare Weise sichtbar macht.
Diese Erzählungen würden jedoch den „Gottesmordvorwurf“ aktualisieren, indem sie suggerierten, dass Juden nach der Tötung Christi nun versucht hätten, ihn auch in der Hostie zu ermorden, so Rutishauser.
Das digitale Verzeichnis enthalte Geschichten über angeblich von Juden geschändete Hostien, die nicht vernichtet werden könnten. Aus diesen solle Blut fließen „zum Zeugnis, dass sie Leib Christi sind, oder sie verwandeln sich in eine Realpräsenz des Auferstandenen, indem sie leuchten und fliegen“.
Der Jesuit betonte die historischen Konsequenzen solcher Narrative, denn sie hätten „in der Geschichte immer wieder zu Gewaltexzessen geführt“ und seien „oft Motivation für Pogrome“ gewesen.
Als konkrete Beispiele nannte Rutishauser die Ereignisse in Brüssel, wo nach einem Hostienwunder um die 20 Juden ermordet und die Gemeinde vertrieben wurde. Historisch belegte Fälle wie die Rintfleisch-Pogrome von 1298 forderten mindestens 4.000 bis 5.000 Opfer in über 130 Ortschaften, während die Deggendorfer Pogrome von 1338 eine Welle von Judenverfolgungen in ganz Niederbayern auslösten.
Schon im Mittelalter hatte die Kirche selbst – also Päpste und auch Herrscher – solche Pogrome und Übergriffe verurteilt. Antijüdische Gewalt war nicht offizielle Lehre oder Praxis der Kirche, sondern wurde ausdrücklich als Unrecht benannt. Die Grausamkeiten geschahen oft im Volkszorn, gespeist aus Aberglauben, wirtschaftlichen Spannungen und politischer Hetze.
Der damalige Papst Innozenz IV. schrieb an die deutschen Bischöfe: „Wegen solcher und anderer Erfindungen erregt man sich über die Juden, beraubt sie ihrer Güter, ohne Anklage, ohne Geständnis, gegen Gottes Gerechtigkeit, und zwingt sie, ihre Wohnsitze, die sie und ihre Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten bewohnen, elendiglich zu verlassen.“
Rutishauser räumte ein, dass Acutis die ursprünglichen antijudaistischen Elemente neutralisiert und statt von Juden von „Ungläubigen“ gesprochen habe. Dennoch sei die Sammlung problematisch: „Zu leicht wird latenter Antijudaismus wieder aktiviert. Er mutiert dann und prägt Denken und Handeln unbewusst, wie dies das Berliner Forschungsprojekt ‚Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus‘ herausgearbeitet hat.“
Obwohl die Erzählungen nun „a-semitisch, von Juden rein gemacht“ seien, würden sie „die kollektive, jüdische Erinnerung“ verletzen, da „die Verfolgung durch Christen, die mit den eucharistischen Wundern legitimiert wurde, fest im Geschichtsbewusstsein des jüdischen Volkes verankert“ sei.
Der Luzerner Theologe forderte von der katholischen Kirche eine Aufklärung: „Dennoch ist es die Aufgabe der Kirche, die Gläubigen aufzuklären und ihnen den historischen Kontext dieser Wundergeschichten bewusst zu machen.“
Bereits im Juni hatte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, Kritik an der Heiligsprechung geäußert. Klein bemängelte, dass antijüdische Aspekte im Kontext „eucharistischer Wunder bei der Entscheidung der Kirche nicht bedacht worden“ seien. Er forderte, dass „dieser Aspekt von den Verantwortlichen in der katholischen Kirche nicht erst auf Nachfrage besprochen und aufgearbeitet“ werde.
Klein relativierte seine Kritik jedoch später gegenüber CNA Deutsch und stellte klar, dass sich seine Einwände „nicht auf das eigentlich Wirken von Carlo Acutis“ bezögen, sondern auf eine „mangelnde Kontextualisierung und Historisierung“.
Der Trierer Liturgiewissenschaftler Marco Benini verteidigte Acutis gegen die Antisemitismusvorwürfe. Nach Beninis Einschätzung habe Acutis um die problematischen Zusammenhänge vermutlich überhaupt nicht gewusst und lediglich in einer Liste alle Eucharistischen Wunder zusammengestellt, die er im Internet finden konnte.
Acutis, der 2006 mit 15 Jahren an Leukämie starb, hatte zwischen seinem 11. und 14. Lebensjahr mit Unterstützung seiner Eltern das umfangreiche Online-Verzeichnis erstellt. Seine Ausstellung über eucharistische Wunder wurde bereits auf allen fünf Kontinenten in über 10.000 Pfarreien gezeigt und ist weiterhin im Internet abrufbar.
