Am 17. September gedenkt die katholische Kirche einer der außergewöhnlichsten Frauen des Mittelalters: Hildegard von Bingen (1098–1179). Die Benediktinerin war weit mehr als eine gewöhnliche Äbtissin – sie war Mystikerin, Komponistin, Medizinerin und eine der ersten deutschen Universalgelehrten.
Hildegard wurde um 1098 vermutlich in Bermersheim bei Alzey als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim geboren. Im Alter von acht Jahren wurde sie zusammen mit der adeligen Jutta von Sponheim in die geistliche Erziehung auf dem Disibodenberg gegeben.
Nach Juttas Tod im Jahr 1136 übernahm Hildegard die Leitung der Frauenklause. Bereits in jungen Jahren hatte sie göttliche Visionen, die sie ihr ganzes Leben lang begleiteten.
Die Erhebung zur Kirchenlehrerin erfolgte am 7. Oktober 2012 durch Papst Benedikt XVI. Zuvor, am 10. Mai desselben Jahres, hatte der Papst ihre liturgische Verehrung offiziell auf die Weltkirche ausgedehnt.
Hildegard ist damit die erste deutsche Frau und die vierte Frau überhaupt, die diesen seltenen Titel erhält. Vor ihr wurden bereits Teresa von Avila, Katharina von Siena und Therese von Lisieux zu Kirchenlehrerin erhoben.
Papst Benedikt XVI. bezeichnete sie als „wahre Lehrerin der Theologie“ und „tiefe Kennerin der Naturwissenschaften sowie der Musik“.
Hildegards theologisches Werk gründet sich vor allem auf ihr erstes großes Visionswerk „Scivias“ (Wisse die Wege), an dem sie von 1141 bis 1151 arbeitete. Das Werk umfasst 26 mächtige Bildvisionen und zeigt den heilsgeschichtlichen Weg von der Schöpfung bis zur Vollendung am Ende der Zeiten auf.
Hildegard entwickelte darin ihre philosophisch-theologische Glaubenslehre, in der Weltbild und Menschenbild untrennbar mit dem Gottesbild verbunden sind.
Ihr medizinisches Werk ist in ihrem Buch „Physica“ überliefert, das fast 2000 Rezepte für die Gesundheit enthält. Die Hildegard-Medizin basiert auf der klassischen Vier-Säfte-Lehre (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) und verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz.
Die Vier-Säfte-Lehre erklärte Gesundheit als Gleichgewicht der Säfte und verband sie mit Temperamenten (sanguinisch, phlegmatisch, cholerisch, melancholisch).
Im Mittelalter wurde dieses Modell von der Kirche breit aufgenommen – allerdings nicht als Glaubenssatz, sondern als vernünftige Naturlehre. Es passte zur aristotelisch-galenischen Medizin, die von der Scholastik integriert wurde. Es widersprach keinem Dogma und unterstützte die pastorale Praxis in Klöstern und Spitälern, wo Mönche und Nonnen konkrete Heilkunst leisteten.
Zudem harmonierte die Idee des „Maßhaltens“ mit der Tugend der Temperantia (Mäßigung) und kirchlichen Fastenzeiten: Wer Maß hält, ordnet Leib und Seele.
Hildegard setzte vor allem auf Heilkräuter mit Bitterstoffen, die sie für kräftigend hielt, und entwickelte ein komplexes Therapiesystem, das Ernährung, Heilpflanzen, Ausleitungsverfahren und eine spirituelle Lebensführung umfasst.
Ihre Briefwechsel zeugen zudem von ihrer außergewöhnlichen Stellung im 12. Jahrhundert. Von keiner Frau der Weltgeschichte bis ins 16. Jahrhundert sind so viele Briefe erhalten. Aus ihnen geht hervor, dass sie mit allen Schichten der Bevölkerung kommunizierte – von Päpsten und Kaisern bis zu einfachen Menschen aus dem Volk. Besonders bemerkenswert ist ihr mutiger Brief an Kaiser Friedrich Barbarossa, in dem sie ihn ermahnte: „O König, es ist sehr nötig, dass du vorsichtig handelst.“
Sie schrieb diesen Brief, weil Kaiser Barbarossa mitten im Kirchenschisma (nach 1159) die Gegenpäpste unterstützte und mit harter Hand in Italien vorging. Als Äbtissin und „prophetissa“ fühlte Hildegard sich verpflichtet, ihn vor Hochmut und Ungehorsam gegenüber der rechtmäßigen Kirche zu warnen und zu kluger Maßhaltung anzuhalten.
Um 1150 gründete Hildegard ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen. Von dort aus unternahm sie mehrere öffentliche Predigtreisen nach Mainz, Würzburg, Bamberg, Trier, Metz und Köln. 1165 gründete sie ein zweites Kloster in Eibingen oberhalb von Rüdesheim.
Am Ende ihres Lebens geriet Hildegard in Konflikt mit dem Mainzer Domkapitel, weil sie einen exkommunizierten Adligen bestattete, der jedoch zuvor gebeichtet hatte. Das daraufhin verhängte Interdikt konnte erst im Frühsommer 1179 aufgehoben werden. Hildegard starb am 17. September 1179 im hohen Alter von 81 Jahren im Kloster Rupertsberg.
