Für den an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrenden katholischen Dogmatiker Georg Essen handelt es sich beim Thema Abtreibung um ein „moralisch und rechtlich unlösbares Dilemma“. Es gebe „keine einfachen Antworten“, schrieb Essen in der Herder Korrespondenz (aktuelle Ausgabe), wenn es um den „Schnittpunkt von Lebensschutz und Selbstbestimmung“ gehe.
Allein in Deutschland sterben pro Jahr weit mehr als 100.000 Personen im Mutterleib durch die vorgeburtliche Kindstötung. Trotzdem gilt das Vornehmen einer Abtreibung als Straftat, auch wenn es zahlreiche Ausnahmen gibt, sodass die vorgeburtliche Kindstötung in Deutschland faktisch ohne große Schwierigkeiten möglich ist.
Essen erinnerte nun an die Debatte um die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf, die nach dem Willen von SPD und Teilen von CDU und CSU, darunter Bundeskanzler Friedrich Merz, Richterin am Bundesverfassungsgericht werden sollte. Brosius-Gersdorf behauptete etwa: „Ob dem Embryo und später Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zukommt, das ist in der Tat in der Verfassungsrechtswissenschaft sehr umstritten. Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“
Die Causa Brosius-Gersdorf“, so Essen, zeige, „in welchem Maße das eigentlich doch behutsam zu behandelnde Abtreibungsthema auch für Zwecke instrumentalisiert werden kann, die gewiss nichts, aber auch gar nichts mit dem Eintreten für die Menschenwürde des ungeborenen Lebens zu tun haben“.
Es hätten sich „auch rechtskatholische Akteure an der Verunglimpfungskampagne gegen Brosius-Gersdorf“ beteiligt, „die eigentlich doch in einem krassen Widerspruch zu ihrem vorgeblichen Anliegen steht, die Menschenwürde und die Grundrechte zu verteidigen“. Man dürfe es „diesen Gruppierungen nicht durchgehen lassen, dass sie ‚mit einer Entschlossenheit ohnegleichen‘ Teil einer ‚Hetzmasse‘ (Elias Canetti) sind, die die demokratische Kultur unseres Landes attackiert und die Spaltung der Gesellschaft geradezu herbeisehnt“.
Essen fragte: „Wollen diese Kulturkämpfer uns ernsthaft davon überzeugen, dem Schutz des ungeborenen Lebens sei damit gedient, das Abtreibungsthema dem Freund-Feind-Schema des Politischen auszusetzen?“
Der Theologe forderte demgegenüber, die Situation des Schwangerschaftskonflikts „umfassend in ihrer Komplexität“ zu beschreiben, also „sowohl dem Schutzbedürfnis des Ungeborenen als auch dem der Schwangeren hinreichend Rechnung“ zu tragen, „und zwar so, dass die damit aufgegebene Spannung nicht zulasten einer der beiden Seiten aufgelöst wird“.
Der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK 2270) sieht die Angelegenheit anders: „Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben.“ Das Lebensrecht ist „absolut“ und wird nicht relativ zu einem Recht auf Selbstbestimmung gesehen.
Essen schrieb, nicht wenige Stimmen „stellen ausschließlich die Schutzpflicht des ungeborenen Lebens in den Mittelpunkt, nicht jedoch in gleicher Weise das Selbstbestimmungs- und damit das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren“.
Im Jahr 2009 stellte die Glaubenskongregation klar: „Seit dem ersten Jahrhundert hat die Kirche es für moralisch verwerflich erklärt, eine Abtreibung herbeizuführen. Diese Lehre hat sich nicht geändert und ist unveränderlich. Eine direkte, das heißt eine als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung stellt ein schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz dar.“
Am Ende seiner Ausführungen bezeichnete Essen die strafrechtliche Regelung, wonach Abtreibungen grundsätzlich strafbar sind, es aber viele Ausnahmen davon gibt, als einen Kompromiss, „der die Schutzpflicht des Staates sowohl dem Ungeborenen als auch der Schwangeren gegenüber ernst nimmt“. Unklar bleibt, inwiefern die Schutzpflicht gegenüber den mindestens 106.455 Kindern wahrgenommen wurde, die 2024 laut offizieller Statistik im Mutterleib getötet wurden.
